Phänomenologie des Mitfahrens
Am Leipziger Hauptbahnhof, 17 Uhr 35. Kommen sie noch? Kommen sie nicht? Ist der Kombi dort grün, oder ist er eher grau? Wer zur Beförderung auf Mitfahrgelegenheiten zurückgreift, muss starke Nerven haben. Aber er kann auch etwas erleben. In diesem Fall kamen sie noch, und so gute Witze wie auf dieser schneckenhaften Fahrt nach Hannover, über die vereiste A2, waren lang nicht zu hören. Und dies ist kein Einzelfall. Ganz allmählich wurde der anachronistische Typus des einsamen Trampers, der auf gottverlassenen Raststätten sein Glück herausfordert, und der besonders bei Eltern so viele Ängste hervorruft, dass sie lieber Geld für ein Ticket spenden als ihren Zögling auf die Straße zu lassen, durch den weitaus sozialeren Mitfahrer abgelöst. Er ist gesprächig, teilt sich auch eine Rückbank zu dritt, und wenn man Glück hat, kennt er gute Witze. Daran lassen sich eine ganze Reihe sozialer Veränderungen festmachen, und daher ist die Mitfahrt einer näheren Betrachtung wert.
Autofahren stößt bei Mitgliedern der Generation Golf, die ja auch eine ökologische Fraktion hat, durchaus nicht auf ungeteilte Liebe. Viele können sich gut an lange, heiße, womöglich migränegeplagte Nachmittage auf den Rücksitzen erinnern, wo es auf dem Weg zur fernen Tante für Stunden kein Entrinnen gab. Daher gibt es bei Vielen den Drang, wenn möglich dem blechernen Trubel deutscher Autobahnen zu entkommen – ironischerweise unterstützt ausgerechnet von Billigfluganbietern. Diese Absage ans Auto hätte Aussicht auf einigen Erfolg, wenn nicht, ja wenn nicht das „Unternehmen Zukunft“ eine so katastrophale Bilanz vorlegen würde. Die Bahn hat häufig Verspätung, kürzt Verbindungen, und wird – von Billigtickets im Nahverkehr abgesehen – stets teurer. Was bleibt da, außer in den regensauren Apfel zu beißen und sich selbst einen blechernen Egopanzer zuzulegen? Es bleibt noch etwas. Seit einiger Zeit gibt es eine erwähnenswerte Alternative.
Von den wenigen fühlbaren Verbesserungen, die die viel gepriesene (und oft überschätzte) mediale Revolution des Internets für das tägliche Leben mit sich brachte, sind eine sicher die Mitfahrerbörsen im Netz oder auf sozialen Medien. Dabei darf es sie, theoretisch betrachtet, gar nicht geben. Die idealisierende Annahme der neoklassischen Wirtschaftstheorie von dem „perfekten“ Markt, also dem synchronen Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage mit gleichen Informationen für alle Beteiligten, ist in der Realität so gut wie nirgends zu finden. Mitfahrbörsen kommen dieser Fiktion jedoch sehr nah. Muss jemand überraschend nach Hamburg und setzt eine Anzeige ins Netz, kann er relativ sicher sein, dass sich binnen Stunden ein Mitfahrer findet. Bezeichnenderweise allerdings ist diese planbare Spontanität nicht, wie die Wirtschaftstheorie vorsieht, ein Preisbildungsmechanismus. Die Preise einer Mitfahrt sind festgelegt, sie steigen auch bei steigender Nachfrage nicht. Das ist im Interesse aller, da zu befürchten steht, dass eine staatliche oder wirtschaftliche Kontrollinstanz auf diese Plattform der Geldzirkulation zugriffe, würde mehr verlangt als eine reine Unkostenbeteiligung. Schon diese Beobachtung könnte tiefsinnig machen: in dem einzigen realitätsnahen Beispiel für einen perfekten Markt geht es gar nicht ums Geldverdienen.
Auch die Soziologie kann hier etwas lernen. Ihre Essayistik hat viel über neue Formen der Begegnung nachgedacht, über die Einkaufspassage, den Wartesaal oder die Bahnhofshalle. Die Form der Begegnung beim Mitfahren unterscheidet sich von den meisten ihrer Vorgänger. Eine Begegnung im Zugabteil etwa wird sich, falls es überhaupt dazu kommt, am ehesten mit der Generation der „jungen Alten“ abspielen. Sie haben Zeit dafür und wenden sich fragend an Mitreisende – wenn es nicht nur die Aufforderung ist, bitte den reservierten Platz freizugeben (welcher gern mal im nächsten Wagen liegt). Aber auch das kann ja nett sein. Solche Begegnungen braucht man beim Mitfahren nicht zu befürchten, da es, bedingt durch das Medium Internet, eine Vorselektion, einen sozialen Filter gibt – den man hinsichtlich seiner Generationengerechtigkeit bedauern mag, der aber zunehmen auch für Ältere überwindbar geworden ist.
Wer auch immer Fahrer oder Mitfahrer wird, man kann recht sicher sein, dass er oder sie zu einer gewissen Generationen- und Schichtenkohorte gehört. Zwar kann man kaum von einem „Typus“ des Mitfahrers sprechen, denn dieselben Menschen könnte man auch im Billigflieger oder auf sozialen Medien treffen, ohne sich mit ihnen verbunden zu fühlen. Hier überkreuzen sich zu viele soziale Kreise, um einen eigenen Typus auszubilden. Doch gibt es eine deutliche Konvergenz. Auf der sozialen Skala befindet man sich oberhalb der abgerissenen Tramper der 1970er Jahre, doch sucht man auch den aalglatt lächelnden Typ des Unternehmensberaters vergeblich. Wer von Frankfurt nach Berlin will, hat gewisse lokale Strukturen bereits transzendiert, und wer zu fremden Leuten ins Auto steigt oder diese ins Auto lässt, benötigt eine gewisse Weltläufigkeit. Das genügt schon, um eine gemeinsame normative Basis bereitzustellen.
Für die Ausbildung einer veritablen Solidarität ist die Kohärenz der Gruppe zu schwach, und schließlich ist ja auch Geld im Spiel – der Keim vom Ende jeder Solidarität. Aber gerade dies, die Bereitwilligkeit, für den praktischen Dienst eine monetäre Anerkennung abzustatten, macht das unausgesprochene Einverständnis aus. Die Gemeinschaft der Mitfahrer hat das Ende des Aussteigertums schon hinter sich, doch sie nutzt die Regeln des Marktes souveräner als die Yuppies der 1980er Jahre oder die ähnlich geldversessenen Jünger der New Economy der Jahrtausendwende. Sie kultiviert eine neue Gelassenheit.
Und dies gilt nicht nur fürs Geld. Was in aufgedrehten Journalen als Flexibilität zuweilen geradezu hysterisiert wird, zeigt sich in Form des Mitfahrens weitaus trivialer. Natürlich hat Entfernung eine geringere Bedeutung, wenn man ohne große Vorplanung und größere Ausgaben auch weitere Strecken zurücklegen kann. Wir verdanken das zwar dem Internet. Aber die Veränderung der Wahrnehmung geht weniger auf transformative Technologien zurück, die den Raum abschaffen oder die Zeit aufheben, sondern eher darauf, dass man sich die Zeit nun gemeinsam vertreibt. Und das ist das Seltsamste an der Mitfahrt: sie schafft Freundschaften auf Zeit, wie es sie z.B. auch beim Home-Sharing gibt. Die soziale Evolution erweist sich als ungeheuer einfallsreich.
Es kann durchaus sein, dass man sich auf einer Mitfahrt sein Leben erzählt. Anders als zuvor bedarf es dazu nicht mehr eines Gewitters auf einer einsamen Berghütte, es genügt schon die Perspektive auf einige Stunden Gemeinsamkeit. Vielleicht ist es gerade die mit der Modernisierung einhergehende Anonymisierung, die diese neue Souveränität im sozialen Umgang ermöglicht. Gerade das Wissen darum, dass es selbst im höchsten Falle beim Austausch einiger Text-Messages bleiben wird, öffnet Herz und Zunge. Hier äußert sich keineswegs der in Sendungen des Privatfernsehens peinlichst zur Schau gestellte Exhibitionismus, sondern es ist die seltene Möglichkeit, Tiefgehendes, zuweilen sogar Privates mit einem Menschen zu besprechen, den keiner aus dem eigenen Umfeld jemals treffen wird. Ausschlaggebend dürfte dabei auch sein, dass man sich aufgrund der Sitzanordnung selbst bei stundenlangen Gesprächen nicht in die Augen schauen muss. Ebenso gut kann man auch den Mund halten, ohne damit jemanden zu verstören – auch dies eine Innovation.
Möglich, dass der digitale Chat ähnliche Foren bietet. Durch die persönliche Begegnung filtert die Mitfahrt allerdings die üblen Versuchungen des Chats heraus. Es gibt keinen Anlass, sich etwas vorzuflunkern, und an den landesüblichen Manieren wird aller Voraussicht nach festgehalten. Vielleicht wäre es gut, man würde das banal aussehende Phänomen des Mitfahrens als Sinnbild der digitalen Moderne lesen. Zwar hat das neue Phänomen des Mitfahrens den Preis, dass es dem gewohnten Trampen ein Ende bereitet: wer bereit ist, jemanden mitzunehmen, ist durch die Mitfahrer meist schon voll. Doch nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird. Selbst wenn das Internet unsere Gewohnheiten so stark verändert wie im Falle des Mitfahrens, das immerhin das Trampen abgeschafft und Mobilität zum kleinen Preis lebbar gemacht hat, gehen wir mit etwaigen neuen Bekanntschaften zu guter Letzt noch immer in die Kneipe um die Ecke. Und schließlich macht die Mitfahrt sichtbar, dass technische Innovationen spürbare Verbesserungen im Alltag nur dann erbringen können, wenn es gelingt, sie von der Kommerzialisierung frei zu halten. Hannover, 23 Uhr 42. Wir sind da.