Wie wird ein Ding zu Eigentum? Ein Erklärungsversuch mit dem Ritual der mancipatio
Teil I der Blog-Reihe „Verfügung über Dinge“
Ist ein Eigentumsobjekt überhaupt Eigentum, wenn keiner darüber verfügen darf? Oder bedarf es immer eines Subjekts, um das Ding zum Eigentum werden zu lassen?
Der Prozess der Eigentumswerdung lässt sich historisch an der Entwicklung der römischen Gesellschaft und eines von den Römern vollzogenen Rituals, der „mancipatio“, nachvollziehen. Dabei zeigt sich, dass erst, wenn ein Subjekt frei und exklusiv über ein einzelnes Ding verfügen kann, ein Verständnis von Eigentum in einer Gesellschaft aufkommt. Denn erst, wenn die Gesellschaft die Verfügung über das Eigentumsobjekt akzeptiert und respektiert, kann sich das Subjekt seines Eigentums sicher sein.
Überliefert hat uns das Ritual der Jurist Gaius, von dem ein juristisches Lehrbuch aus der Mitte des 2. Jahrhunderts erhalten ist. Das Ritual selbst ist aber viel älter und seine Entstehung wird meist auf die Wende zum 5. Jahrhundert vor Christus angesetzt. Es kommt aus der von Rechtshistorikern als „Frühzeit“ bezeichneten Periode, die bis 300 vor Christus veranschlagt wird. Gaius erläutert hier anlässlich des Eigentümerwechsels eines Sklaven, der im rechtlichen Sinne eine Sache war, folgendes:
Gai 1.119
Est autem mancipatio, ut supra quoque diximus, imaginaria quaedam venditio: quod et ipsum ius proprium civium Romanorum est; eaque res ita agitur: adhibitis non minus quam quinque testibus civibus Romanis puberibus et praeterea alio eiusdem condicionis, qui libram aeneam teneat, qui appellatur libripens, is, qui mancipio accipit, rem tenens ita dicit: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO ISQUE MIHI EMPTUS ESTO HOC AERE AENEAQUE LIBRA; deinde aere percutit libram idque aes dat ei, a quo mancipio accipit, quasi pretii loco.
„Die mancipatio ist aber, wie schon oben beschrieben, eine Art Scheinkauf; auch sie ist eine Einrichtung des den römischen Bürgern eigentümlichen Rechts. Das Geschäft wird folgendermaßen vollzogen: Unter Beiziehung von nicht weniger als fünf erwachsenen römischen Bürgern als Zeugen und einer weiteren Person desselben Status, die eine eherne Waage hält und Waagenhalter genannt wird, spricht derjenige, der durch die mancipatio erwirbt, indem er die Sache ergreift: „Ich sage und behaupte, dass dieser Sklave nach Zivilrecht mir gehört, und er sei von mir gekauft mit diesem Erz und dieser Waage“. Daraufhin schlägt er mit dem Erz gegen die Waage und gibt dieses Erz – gleichsam anstelle des Kaufpreises – dem, von dem er durch die mancipatio erwirbt“.
Übersetzt von: Prof. Dr. Jan Dirk Harke, in: Grundrisse des Rechts, Römisches Recht, 2. Auflage, München 2016 (https://www.beck-shop.de/harke-roemisches-recht/product/17169722)
Der Veräußerer schweigt bei diesem Vorgang die ganze Zeit. Er hat eine rein passive Rolle. Weder äußert er sich zu dem Geschehen, noch greift er durch eine Handlung in den Vorgang ein. Er begleitet das Ritual lediglich durch seine Anwesenheit. Allein der Erwerber fasst das zu veräußernde „Objekt“ tatsächlich mit der Hand an, wird also aktiv. Damit greift er in den Herrschaftsbereich des Veräußerers schon zu einem Zeitpunkt ein, in dem die „Sache“ eigentlich noch diesem gehört. Durch die Wortformel stellt der Erwerber dann klar die Zuordnung des Objekts als ihm gehörend auf. Es wird somit ein passiver Veräußerer beschrieben, der eine Sache nur zu dem Ritual „mitbringt“ und ein aktiver Erwerber, der sich die Sache nicht nur nimmt, sondern sogar ausspricht, sie würde ihm schon gehören. Es wird eine aktive Aneignung ohne Widerstand des passiven Veräußerers beschrieben.
Im nächsten Absatz erläutert Gaius, welche „Sachen“ durch mancipatio übertragen werden können:
Gai I 120
Eo modo et serviles et liberae personae mancipantur; animalia quoque, quae mancipi sunt, quo in numero habentur boves, equi, muli, asini; item praedia tam urbana quam rustica, quae et ipsa mancipi sunt, qualia sunt Italica, eodem modo solent mancipari.
„Die Übergabe durch das mancipatio-Ritual war also für bestimmte Dinge vorgesehen, Sklaven und Freie sowie vierfüßige Herdentiere und Grundstücke in der Stadt sowie auf dem Land, wenn sie in Italien sind“.
Übersetzt von: Prof. Dr. Jan Dirk Harke s.o
Aus der Eigenart der durch mancipatio zu übereignenden „Gegenstände“ lassen sich Schlüsse ziehen: Wir können sie einem bäuerlichen Leben zuordnen, der Landwirtschaft und der Bewirtschaftung von Grundstücken. Zwar nennt Gaius Grundstücke in der Stadt und auf dem Land, aber bei ihm als Autor dürfen wir nicht unberücksichtigt lassen, dass er aus seiner Zeit heraus schreibt, als die Stadt Rom eine anders war als im 5. Jahrhundert v. Chr., als die Bodenstruktur und die Wirtschaft, die das Handeln und Denken der Menschen prägten, noch nicht mit der des Gaius vergleichbar war. Zuletzt werden noch vierfüßige Herdentiere genannt (Ochsen, Pferde, Maultiere, Esel). All diese Dinge sind nicht nur Bestandteil des bäuerlichen Lebens, sondern eines Familienverbands, der auf einem Grundstück gemeinsam lebt, Vieh und Sklaven besitzt. Mit anderen Worten könnte man sagen, eines prosperierenden Familienbetriebs.
Aber warum bedurfte es nun eines so umständlichen Verfahrens, um über diese Dinge, Grundstücke, Sklaven und vierfüßige Herdentiere Verfügungen zu treffen, sie zu veräußern, sie einem anderen zu übergeben? Weil es sich bei den res mancipi um Dinge gehandelt haben könnte, die eigentlich unveräußerlich waren. Dies nicht, wie heute der Fall, weil Menschen per se nicht übertragen werden dürfen. Aus damaliger Sicht handelte es sich vielmehr um „Gegenstände“, die für die in bäuerlichen Verhältnissen lebenden Familienmitglieder grundlegend und unentbehrlich waren. So sollte der Einzelne, auch nicht der pater familias, das Familienoberhaupt, nicht die Möglichkeit haben, diese „Dinge“ aus dem Familienvermögen herauszulösen, sie zu veräußern. Diese Unveräußerlichkeit diente auch dazu, eine Sachgesamtheit zu erhalten, sollte das Familienoberhaupt einmal sterben. Es sicherte den Erben einen beständigen Grundstock an solchen Dingen, die zu Bewirtschaftung des eigenen Grund und Bodens unverzichtbar waren. Es handelte sich also um Dinge, die allen in diesem Verband gehörten, nicht einem einzelnen zugeordnet waren und über die deshalb niemand allein verfügen können sollte.
Sobald sich die Gesellschaft jedoch aus dem landwirtschaftlichen Kontext des archaischen Roms zu lösen begann, wurde diese Beschränkung zu einem Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung. Bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. begannen die Römer mit ihrer Expansion in ganz Italien, wo sie das gewonnene Land ihrer Feinde in öffentliches Territorium (ager publicus) umwandelten und über dessen Verteilung, aber auch individuelle Nutzung diskutierten. In den vier Jahrhunderten der fortschreitenden Umwandlung des Landbesitzes in Italien (und später im Mittelmeerraum) suchten viele der Söhne, die im Familienkreis lebten, ihr Glück in den neuen Zuteilungen und den Kolonien, die während der Republik gegründet wurden. Sie siedelten sich dort als freie Landbesitzer inmitten der Spannungen zwischen Großgrundbesitzern, die auf ihren Latifundien mit vielen Sklaven wirtschafteten, und kleinen Landbesitzern an und veränderten so die Art, die Notwendigkeiten und den Umfang der Agrarwirtschaft. Dadurch und vor allem durch den Handel, der sich zwischen den Kolonien und Rom entwickelte, wurden die früheren gesetzlichen Beschränkungen der Landveräußerung immer mehr zu einem Hindernis. Diese Veränderung, wirtschaftlich sowie gesellschaftlich, brachte ein Bedürfnis nach Veränderung, denn es war für den Einzelnen nicht nachvollziehbar, warum eine Kuh nicht veräußerlich sein konnte, ein Goldring aber schon, nur weil er nicht in die Kategorie der res mancipi fiel. Hier trat offensichtlich ein Widerspruch zu tage. Der schon vollzogene und sich vollziehende Wandel der Gesellschaft hatte das Bedürfnis nach dem Institut der mancipatio geschaffen, denn der Einzelne war in dieser zu einem Teil auch urbanisierten Gesellschaft nicht mehr so sehr auf den Hafen der Familie angewiesen wie zuvor. Wie genau sich dieser gesellschaftliche Wandel vollzogen haben mag, ist schwierig nachzuvollziehen. Das Ritual der mancipatio zeigt uns aber deutlich, dass auch für die besonderen „Sachen“ der Kategorie res mancipi ein Weg gefunden wurde, diese zu veräußern.
Um aber die geschätzten alten Traditionen nicht mit Füßen zu treten, dachte man sich das Umgehungsgeschäft der mancipatio aus. Mit dem Ritual konnten diese festen Strukturen gelockert werden und man konnte Gegenstände, ohne sie offiziell aus dem Familienverband zu lösen, faktisch doch aus diesem heraustrennen. So hatte sich ein Wandel vollzogen, bei dem „Dinge“, über die vorher nicht verfügt werden konnte, die nun aber, fungibel waren.
Es werden so Tendenzen von Personalisierung und Individualisierung im Verfügungsprozess deutlich. Durch die Praktiken der Umgehung, oder wie Gaius es in seinem Lehrbuch nennt, durch das „Scheingeschäft“, wird ein Ding zum Eigentumsobjekt, über welches ein Eigentumssubjekt frei und ohne Beschränkung durch die Gemeinschaft, in der es lebt, verfügen kann.