Hypothesen und Leitfragen
Unsere Leitfragen für die zweite Förderphase orientieren sich nicht nur an den entfalteten Vergleichsperspektiven, sondern auch an den Hypothesen zum Zusammenhang des anhaltenden Bedeutungsgewinns und der gleichzeitigen Infragestellung von (Privat-)Eigentum, die aus den Forschungen der ersten Förderphase resultieren. Wie einleitend dargestellt wurde, gehen wir davon aus, dass sich Eigentum im Zug seiner Expansion erstens diversifiziert, dass zweitens besonders das weitere Vordringen von Privateigentum Kritik, Abwehr und Gegenbewegungen auslöst, dass drittens vermehrt eine Unterordnung von Eigentum unter andere, namentlich geopolitische und ökologische Ziele zu beobachten ist, und dass seine Wandlungen schließlich nicht durchgängig als Ausweitung eines westlich-liberalen Kernmusters zu rekonstruieren sind, sondern auf ‚ungleichzeitigen‘ und vor allem heterogenen Eigentumstraditionen aufbauen, die gleichwohl miteinander in Wechselwirkung stehen. Ausgehend von diesen Annahmen, orientiert an den Vergleichsperspektiven und mit Blick auf unsere Themenfelder lassen sich übergreifende Leitfragen für die zweite Förderphase formulieren.
Diversifizierung des Eigentums
- Extensional: Führt die Ausdehnung von Eigentum auf zuvor nicht proprietäre Objekte zu seiner Diversifizierung? Worin besteht jeweils die kausale Verbindung?
- Intensional: In welchen Fällen lässt sich die Diversifizierung von Eigentum als differenziertere Gestaltung bisheriger Eigentumsformen betrachten, in welchen bringt sie neue Mischungen (etwa von Staats- und Privateigentum) hervor, wo tendiert sie sogar dazu, das Grundverständnis von Eigentum neu zu bestimmen?
- Zeitlich: Sind die diversifizierten Eigentumsformen und -ordnungen jeweils historisch neu, oder beerben sie (wie im Fall von Allmenden und Commons) ältere Muster? Befinden sie sich noch im experimentellen Stadium oder haben sie sich bereits stabilisiert? Und lässt sich jeweils ein bestimmter Zeitpunkt bzw. -abschnitt bestimmen, zu dem das diversifizierte Muster aufkam oder wichtig wurde? Und (wo) verändert sich die Temporalität von Eigentum selbst, z.B. in Richtung beschleunigten Umschlags oder im Blick auf längerfristige (ökologische) Folgewirkungen?
- Räumlich: Konzentriert sich der Trend zu Diversifizierungen des Eigentums auf Länder und Weltregionen mit einer bestimmten, etwa einer starken liberalen oder umgekehrt wohlfahrtsstaatlichen Prägung; wo ergeben sie sich gerade aus der Überlagerung und Hybridisierung verschiedener regionaler Eigentumsordnungen? Inwiefern muss man hier eher zwischen Ländern und Weltregionen differenzieren, inwiefern zwischen den (kommunalen bis transnationalen) Ebenen multiskalarer Staatlichkeit?
Abwehr fortschreitender Propertisierung
- Extensional: Wie relevant sind (in den jeweiligen Kontexten) die Abwehr von und Alternativen zum vorrückenden Privateigentum politisch und ökonomisch? Fordern sie den Trend zur Propertisierung oder sogar das Privateigentum als Basisinstitution heraus, oder bleiben sie auf theoretische Spekulationen und kleine alternative Milieus begrenzt? Sind in der Abwehr eher eigentumslose oder von Eigentumsverlust bedrohte Schichten und Klassen engagiert, oder handelt es sich umgekehrt um Initiativen relativ privilegierter Mittel- und Oberschichten?
- Intensional: Wo werfen die Abwehr von und Alternativen zum Privateigentum inhaltlich Systemfragen auf oder stellen für Teilbereiche wie etwa Wissenschaft, Kulturproduktion oder Softwareentwicklung eine nicht mehr proprietäre Ordnung in Aussicht? Wo sind sie wesentlich Verteilungsfragen? Und wo fügen sie sich ggf. gegen die explizite Intention von Protagonist:innen in proprietäre Umgebungen ein?
- Zeitlich: Lassen sich Zeiträume identifizieren, in denen die Abwehr von Propertisierung besonders stark war? Wie verhalten sich die eigentumspolitischen Positionen solcher Phasen zueinander und zu früheren Hochphasen etwa der westlichen Linken? Welche anderen Teile des politischen Spektrums waren oder sind involviert?
- Räumlich: Wo sind Kritik und Abwehr des westlichen Liberalismus wesentlich von der Abwehr westlicher Eigentumsmuster, oktroyierter Propertisierung und der Bereicherung westlicher Eigentümer:innen geprägt? Welche Rolle spielen dabei nichtwestliche Eigentumstraditionen, die Interessen privilegierter oder untergeordneter Bevölkerungsgruppen und diejenigen gewählter oder autoritärer Regierungen? In welchen Auseinandersetzungen stehen (wie etwa bei geistigem Eigentum und Generika in der Pharmaindustrie) auch globale Ungleichheiten zur Debatte?
Priorisierung und Unterordnung von Eigentum
- Extensional: In welchem Ausmaß werden Eigentumsrechte politischen oder anderen Zwecken untergeordnet? Wird dadurch in bestimmten nationalen oder internationalen Kontexten die Bedeutung des Privateigentums strukturell eingeschränkt?
- Intensional: Welche Arten von Eigentum sind betroffen? Steht besonders (transnationales) Unternehmenseigentum zur Disposition, oder genießt es weiterhin besonderen Schutz? Welche Ziele werden im Zweifelsfall gegenüber Erhaltung und Schutz privaten und unternehmerischen Eigentums priorisiert?
- Zeitlich: Lässt sich in allerjüngster Zeit (seit der Corona-Pandemie) ein besonderer Schub der Eigentums-Unterordnung beobachten? Welche historischen Vergleichsbeispiele bieten sich an, inwiefern bilden die Kriegswirtschaften des 20. Jahrhunderts ein tragfähiges Muster? Und wird eine Unterordnung des Eigentums nur auf Zeit oder zeitlich unbegrenzt vorgenommen?
- Räumlich: Reagiert die Unterordnung von Eigentum unter andere Ziele erkennbar auf Entwicklungen in Ländern jenseits des westlichen Liberalismus, namentlich Russland und China, oder lässt sich ein weltweiter, auch technologisch und ökologisch bedingter Trend zur Deglobalisierung und Wieder-Verstaatlichung feststellen?
Globale Wechselwirkungen heterogener Eigentumsdynamiken
- Extensional: In welchen transnationalen Konstellationen sind westliche Eigentumsinteressen nicht (mehr) in der Offensive, sondern in der Defensive oder wenig relevant? Inwiefern betreffen solche veränderten Machtverteilungen die Eigentumsordnungen selbst, etwa die Anteile politischer Herrschaft?
- Intensional: Welche Alternativen bestehen global weiterhin oder erneut zum westlich-liberalen Privateigentum? Inwiefern sind dabei Aspekte familialer Solidarität, kultureller Kontinuität, kollektiver Landnutzung und politischer Machtverteilung anders integriert als im westlichen Fall – und wo dien(t)en gerade Länder des Globalen Südens wie Chile als Experimentierfelder entgrenzten Eigentums?
- Zeitlich: Welche Zäsuren und Umbrüche sind für die Untersuchungsländer jenseits von Europa und Nordamerika entscheidend? Vollziehen sich Grundbewegungen der Expansion und Herausforderung des (Privat-)Eigentums hier ggf. in anderen Zeiträumen?
- Räumlich: Welche Eigentumsordnungen haben sich im Zuge der Globalisierung miteinander verschränkt und verbunden, welche sind getrennt geblieben, welche driften aktuell wieder auseinander? Lässt sich etwa das Common Law angelsächsischer Prägung weiterhin als weltweiter Standard für Unternehmens- und Finanzeigentum sehen?