Mobilität als öffentliche Infrastruktur. Über verbindende Kämpfe für einen besseren ÖPNV
Mobilität basiert in Deutschland traditionell auf verschiedenen Verkehrsträgern, wobei das Auto seit Jahrzehnten eine dominierende Stellung einnimmt. Dementsprechend gehen einschlägige Prognosen davon aus, dass der Anteil des motorisierten Individualverkehrs an der gesamten Verkehrsleistung bis in die 2030er Jahre nahezu unverändert bei rund drei Vierteln liegen wird, der Eisenbahn- und öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) haben dagegen zusammengefasst nur einen Anteil von 14 Prozent (Schwedes 2019). Die Dominanz des PkW-Verkehrs und die schleppende Elektrifizierung sind dabei nicht nur hauptverantwortlich für die schlechte Ökobilanz des Sektors hierzulande (UBA 2024) – tatsächlich drückt sich darin auch ein (Miss-)Verhältnis von privaten und öffentlichen Infrastrukturen aus. Oft übersehen, werden für die automobile Gesellschaft öffentliche Leistungen erbracht, die dann weitgehend unentgeltlich privat genutzt werden und die vergleichsweise günstige Mobilität mit dem eigenem PkW erst ermöglichen. Zu nennen sind hier vor allem der öffentliche Straßen(aus)bau, die kostenlose oder kostengünstige Nutzung des öffentlichen Raums zum Parken sowie Subventionen und steuerliche Vergünstigungen wie Kaufprämien, das Dienstwagenprivileg oder die Pendlerpauschale. Insofern verbirgt sich gerade auch im Automobilismus das „Kollektive im Privaten“ (van Dyk 2024). Demgegenüber hinkt die Politik ihrem selbst gesteckten Ziel eines anteiligen Ausbaus des öffentlichen Verkehrs hinterher. Die verkehrspolitische Realität ist vielmehr durch eine anhaltende Parallelfinanzierung der verschiedenen öffentlichen und privaten Verkehrsträger gekennzeichnet, wobei die Dominanz des Autos und damit die Privatisierung der Mobilität unangetastet bleibt.
Eine echte Verkehrswende wäre hingegen voraussetzungsvoll und ginge über eine reine Antriebswende hinaus. Hierzu müssten unter anderem öffentliche Alternativen zum privaten Auto, kleinere und günstigere E-PkW, smarte Carsharing-Modelle sowie integrierte Verkehrssysteme geschaffen und ausgeweitet werden. Ein entsprechender Um- und Ausbau von Verkehrsinfrastrukturen würde dabei zwingend gesellschaftliche Fragen nach Mitbestimmung, Eigentum und Umverteilung berühren. Zu nennen ist hier zunächst die konfliktträchtige Transformation der Automobilwirtschaft (Dörre et al. 2024); aber auch ein auszubauender ÖPNV berührt vielschichtige Themen, wie die Eigentumsstrukturen der Verkehrsbetriebe und ihre Finanzierungsweisen aus beitrags-, steuer- oder ticketbasierten Quellen (Sander 2021) sowie den Umbau der Mobilitätsindustrien hin zu Bussen und Schienenfahrzeugen (Candeias und Krull 2022). Fest steht: ohne starke Fürsprecher und vermehrte staatliche Ausgaben ist ein besserer ÖPNV nicht machbar.
#WirFahrenZusammen
Vor diesem Hintergrund hat sich bereits vor einigen Jahren ein bemerkenswertes Bündnis von Gewerkschaften und Klimabewegung zusammengefunden, um gemeinsam für eine sozial-ökologische Verkehrswende sowie höhere Entgelte und bessere Arbeitsbedingungen im ÖPNV zu kämpfen (Liebig und Lucht 2022). Anlässlich der letzten Tarifrunden 2020/21 und 2023/24 versammelten sich Aktive aus Fridays for Future sowie Beschäftigte, Betriebsrät:innen und Gewerkschafter:innen unter dem Motto #WirFahrenZusammen. So riefen die beteiligten Organisationen am 1. März 2024 zu einem bundesweiten Klimastreik und Warnstreiks auf, in vielen Städten fanden gemeinsame Streikversammlungen und politische Kundgebungen statt. Das öko-soziale Bündnis der beiden – vermeintlich ungleichen – Partner aus Klima- und Gewerkschaftsbewegung hat zu Recht viel Aufmerksamkeit erregt.
Im Mittelpunkt der mehrjährigen Allianz steht die ökologisch motivierte Forderung, die sozialen Voraussetzungen für einen Ausbau des ÖPNV zu schaffen und gegen die Unterfinanzierung anzukämpfen. Dies tut bitter Not: Bereits vor der Coronakrise, die die finanzielle Situation noch verschärfte, wurde der ÖPNV vielerorts dramatisch vernachlässigt. Die Arbeitsbedingungen, insbesondere der rund 87.000 Beschäftigten im Fahrdienst, sind gekennzeichnet von belastenden Schichtdiensten und vielen Überstunden, was zu hohen Krankenständen führt; überdies entwickelten sich die Löhne in der Vergangenheit eher schlecht. Investitionen, bessere Arbeitsbedingungen und Entgelte werden von der Allianz deshalb als Voraussetzungen begriffen, um die Nutzerzahlen zu vervielfachen und eine Verkehrswende zu erreichen.
Bei beiden Tarifbewegungen ermöglichten ein bundesweiter Kampagnenplan und zahlreiche (Video-)Versammlungen mit Fridays for Future und ver.di sowie den Beschäftigten über Monate hinweg, synchrone Aktionen durchzuführen, Petitionen zu starten und Erfahrungen zu teilen. Dafür wurde seitens der Klimabewegung systematisch auf Organizingmethoden, (Städte-)Mappings und eine überregionale Vernetzung der Ortsgruppen zurückgegriffen, um eine selbstselektive Arbeitsweise zu überwinden. Zwar konnte ein bundesweiter Tarifvertrag (TV-N) und damit eine zentrale Forderung nicht durchgesetzt werden, jedoch wurden (teils überdurchschnittliche) Entgelterhöhungen, Prämienzahlungen sowie Verbesserungen in Form von Urlaubs- und Entlastungstagen erreicht. Als eigentlicher Erfolg kann allerdings das Zustandekommen des neuartigen öko-sozialen Bündnisses zwischen Klima- und Gewerkschaftsbewegung selbst betrachtet werden.
Strategiedebatten zwischen Bewegungszyklen
Wie aber kam es zu dieser ebenso ungewöhnlichen wie bemerkenswerten Allianz? Spätestens mit der Verabschiedung des „Bundes-Klimaschutzgesetzes“ durch die damalige große Koalition im Herbst 2019, das (nicht nur) engagierte Klimaaktive als unzureichend kritisierten und welches erst durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im August 2021 nachgeschärft wurde, begann innerhalb der Klimabewegung eine Strategiediskussion. Zwar hatten insbesondere Fridays for Future in den Jahren zuvor äußerst breite und beteiligungsstarke Klimastreikdemonstrationen organisiert. Doch trotz oder gerade angesichts der enormen (symbolischen) Mobilisierungs- und Diskurserfolge, stellte sich nun die Frage nach einer effektiveren realpolitischen Durchsetzungsfähigkeit. Dabei lassen sich grob drei strategische Suchbewegungen identifizieren: Während sich einige exponierte Personen der Klimabewegung verstärkt parteipolitisch engagieren und den Weg in die Parlamente suchen, setzen andere Fraktionen vermehrt auf zivilen Ungehorsam; eine dritte Orientierung wiederum rückt soziale Fragen in den Mittelpunkt und strebt einen „labour turn der Klimabewegung und einen climate turn der Gewerkschaften“ an (climate.labour.turn 2023: 24), wie #WirFahrenZusammen im ÖPNV. „Fridays for Future ist hier auf uns zugekommen und hat gesagt ‚Wir möchten die Allianz machen und wir möchten Druck erzeugen können! Und der Arbeitskampf ist nochmal ein stärkeres Mittel als der Schulstreik‘, und das stimmt ja auch“, führt eine beteiligte Gewerkschafterin aus. Die Gewerkschaftsseite könnte ihrerseits durch eine gesteigerte Legitimität sowie neue junge Mitglieder profitieren.
Inzwischen ist viel Zeit vergangen. Seit der ursprünglichen Gründung von #WirFahrenZusammen und den großen Mobilisierungen von Fridays for Future hat sich viel verändert. Zurecht wird mittlerweile wieder von einer Krise und einem „lange[n] Winter der Klimabewegung“ (Gress 2024) gesprochen; auf der gesellschaftlichen Ebene ist die sozial-ökologische Transformation umkämpft wie nie zuvor und droht zu scheitern (Dörre et al. 2025). Vor diesem Hintergrund wirkt die oben genannte Strategiediskussion rückblickend eher wie eine Aufsplitterung. Zudem setzt der jüngste Erfolg rechter und anti-ökologischer Parteien Gewerkschaften wie Klimabewegung gleichermaßen unter Druck. Nichtsdestotrotz kann die gewerkschaftsnahe Strategie der ÖPNV-Kampagne auch in dieser Situation Mut machen und Orientierung geben.
Hierzu sei noch einmal an die ursprüngliche Motivation zum Aufbau des öko-sozialen Bündnisses erinnert. So haben insbesondere die politisch polarisierenden Auseinandersetzungen um den Braunkohleausstieg in der Lausitz gezeigt, dass sich soziale und ökologische Belange gegeneinander verselbstständigen und Nachhaltigkeitsziele so blockiert oder verschleppt werden können (Dörre u.a. 2022). Die Bündnisaktiven schlussfolgerten: „Gewerkschaften und Klimabewegung können sich gegenseitig lähmen oder bestärken […]. Die zweite Dynamik, die aus der Verbindung von ökonomischer und politischer Macht der beiden Bewegungen entsteht […], ist diejenige, für die wir plädieren“ (climate.labour.turn 2023: 23f). Dazu müssen die beiden Lager aber erst einmal miteinander in Kontakt kommen und lernen zusammenzuarbeiten. So haben sich in der Kampagne #WirFahrenZusammen unterschiedliche Generationen und Gruppen zusammengefunden. Nicht nur ist die Seite der Klimaaktiven deutlich weiblicher, auch die Alterskohorten und sozialen Hintergründe unterscheiden sich klar. Bei allen soziodemographischen und sozialstrukturellen Unterschieden eint die Akteure die Suche nach mehr Durchsetzungskraft. So geht ein Großteil davon aus, dass es in Zukunft noch wichtiger sein wird, dass Klimabewegungen und Gewerkschaften zusammenarbeiten. Schließlich ist es dem Bündnis gelungen, Tarifauseinandersetzungen aktiv zu politisieren und Entgeltfragen mit verkehrs- und klimapolitischen Zielen zu verbinden. Während die konkreten Tarifergebnisse in den Belegschaften durchaus ambivalent bewertet wurden, fiel die Bewertung der Kampagne insgesamt (sehr) positiv aus. Vielerorts ist eine gelebte Praxis verbindender ökologischer Klassenpolitik entstanden, die perspektivisch zur Erneuerung auf beiden Seiten beitragen und aus politischen Sackgassen herausführen könnte.
Allerdings gab und gibt es auf diesem Weg auch zahlreiche Widerstände. Mit Blick auf die fragliche Verallgemeinerungsfähigkeit ist zunächst festzuhalten, dass die Bedingungen für eine öko-soziale Allianz im ÖPNV günstiger erscheinen als in anderen (fossilen) Branchen. Doch auch im ÖPNV hängt das Zustandekommen gemeinsamer Bündniserfahrungen, in denen Vorurteile abgebaut und Allianzen erprobt werden können, in hohem Maße von einzelnen Schlüsselpersonen ab, auch weil eingespielte institutionelle Kanäle nicht existieren. Darüber hinaus kann mit Blick auf die unterschiedlichen lokalen Ausgangsbedingungen geschlussfolgert werden, dass der Bündnisprozess und die Integration ökologischer Motive in die Tarifkampagne die gewerkschaftliche Arbeit vor Ort insbesondere dann bereichern kann, wenn diese bereits relativ gut aufgestellt ist. Ist die gewerkschaftliche und betriebliche Interessenvertretung jedoch ohnehin geschwächt oder mit dem Kerngeschäft voll ausgelastet, so dass keine zusätzlichen Kapazitäten zur Verfügung stehen, und überwiegen in den Belegschaften distanziert-skeptische Sichtweisen, können die Thematisierung von Klimafragen und die (zeitintensive) Zusammenarbeit auch als zusätzliche Belastung empfunden werden. Ebenso gibt es negative und meinungsstarke Minderheitenpositionen in den Belegschaften, die teilweise und trotz vielfältiger Bemühungen nicht abgebaut werden konnten. All dies erklärt, warum der Erfolg der Kampagne von Ort zu Ort auffallend unterschiedlich war.
„Bargaining for the common good“ oder: Der ÖPNV als soziale Infrastruktur
Nicht zuletzt zeigt das Beispiel #WirFahrenZusammen, dass es bei der Organisierung und Durchsetzung sozialer und ökologischer Interessen keine Abkürzungen und einfachen Lösungen gibt. Auch wenn konkrete Forderungen nach besserer Entlohnung und Entlastung zwingend in gewerkschaftlichen Tarifverhandlungen durchgesetzt werden müssen, steht die Kampagne auch für die Strategie des „bargaining for the common good“, übersetzt in etwa: Arbeitskämpfe für das Gemeinwohl. In diesem Sinne wird der ÖPNV als öffentliche Infrastruktur und klimafreundliche Mobilität als Teil der Daseinsvorsorge verstanden. Der ernüchternden bundespolitischen Verkehrspolitik zum Trotz gehen die Ziele und Handlungen des Bündnisses also weit über reine Tarifpolitik hinaus. Durch den russischen Angriffskrieg und weitreichende Aufrüstungspläne hat sich die Lage allerdings noch einmal deutlich zugespitzt. Es droht eine Art militärische Konversion. Mehrere verkehrsindustrielle Betriebe könnten zukünftig Militärprodukte herstellen, wie die Werke VW Osnabrück oder Waggonbau Görlitz zeigen. Für das öko-soziale Bündnis bedeutet dies, dass letztlich Fragen nach Eigentumsstrukturen und Entscheidungsmacht nicht ausgespart werden dürfen. Nichtsdestotrotz dient der politische Ansatz von #WirFahrenZusammen inzwischen als Vorbild für weitere Auseinandersetzungen um öffentliche Güter. So hat sich rund um die Tarifrunde im öffentlichen Dienst im Frühjahr 2025 die Initiative #LeipzigStehtZusammen gegründet. Beschäftigte und Einwohner:innen setzen sich darin gemeinsam für gute Arbeitsbedingungen und eine zukunftsfähige Versorgung ein. Denn letztlich entscheidet die öffentliche Infrastruktur – von der kommunalen Kita über die Stadtreinigung bis zum Nahverkehr – über die Lebensqualität breiter Bevölkerungsgruppen. Tarifpolitik wird so wieder stärker als Gesellschaftspolitik begriffen; und umgekehrt werden progressive Politikentwürfe enger mit betrieblichen Kämpfen verbunden. Derzeit laufen die Vorbereitungen für eine dritte ÖPNV-Runde mit #WirFahrenGemeinsam im Jahr 2026. In Zeiten eines autoritären Rechtsrucks, massiver Aufrüstung und eines anti-ökologischen backlash erscheint dies wichtiger denn je.