Feb. 15, 2025

Studienschulden in den USA

Author: Felix Krämer

„Everyone was in debt in the mid-1990s“, sagte mir Ryan, den ich ihn im Zuge der Recherchen für mein Buch Leben auf Kredit. Menschen, Macht und Schulden in den USA vom Ende der Sklaverei bis in die Gegenwart nach seinen Studentenkrediten und der Bedeutung von Verschuldung in seinem Leben gefragt hatte.** Stetig steigende Studiengebühren im US-amerikanischen Hochschulwesen zwangen die meisten College- und Universitätsstudierenden dazu, Schulden anzuhäufen, als Ryan sein Studium zu Beginn der 1990er Jahre anfing. „It was the price of freedom“, sagte er mir. Ryan und seine Geschwister waren die erste Generation in der Familie, die studierte. Als sie ihre Studienkredite aufnahmen und später die ersten Raten bezahlten, befanden sie sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in einer Zeit der bedeutenden Entwicklung der Finanzialisierung von Privatschulden. Risiken wurden zunehmend verbrieft und in Form von Derivaten weiterverkauft. Bereits in den 1970er-Jahren waren in den USA Kredite zunehmend zum Modus Operandi geworden, um stagnierende Löhne auszugleichen (Krippner 2011). Dies war begleitet von einer immensen Schuldendifferenz – ein Begriff, mit dem ich bezeichne, dass Menschen durch Verschuldung ganz unterschiedlich betroffen sind. Dies gilt auch für Studienverschuldung, denn es macht einen Unterschied, ob jemand die Studienschulden beispielsweise über ein Erbe tilgen kann oder diese ein lebenslanger Begleiter bleiben. Vor dem Hintergrund dieser Perspektive kann es als glücklicher Umstand gewertet werden, dass die Versuche scheiterten, jenes Studiengebühren- und Schuldensystem in den 2000er-Jahren auch in der deutschen Universitätslandschaft zu etablieren. Aber wie war es dazu gekommen, dass so viele Studierende in den USA einen so hohen Preis für ihre Bildung zahlen mussten?

Kreditgeschichte der Hochschulbildung

Im Jahr 1958 wurde mit dem National Defense Education Act (NDEA) in den Vereinigten Staaten ein Markt für Studienkredite eingeführt, nachdem mit Sputnik von der Sowjetunion aus ein Jahr zuvor der erste Satellit ins All gestartet war. In Reaktion auf diesen Erfolg war die Gesetzgebung des NDEA sicherheitspolitisch gerahmt, zielte auf den Systemwettbewerb im Kalten Krieg ab und führte gleichzeitig private Bildungskredite ein. Die beiden Seiten der Medaille, öffentliche Investitionen in künftiges „Humankapital“ und privat finanzierte Hochschulbildung als Teil des Sicherheitsapparats, bildeten selbst in Lyndon B. Johnsons Great Society Mitte der 1960er-Jahre den Rahmen. Als Johnson 1965 den Higher Education Act (HEA) unterzeichnete, übertrug die Gesetzesinitiative die damals populäre Humankapitaltheorie auf Klassenpolitik. Hochschulbildung als Mittel des sozialen Aufstiegs wurde mit Demokratisierung assoziiert. In einer texanischen College-Turnhalle verwies Präsident Johnson auf die gesellschaftspolitischen Ziele des Gesetzes: „A high school senior anywhere in this great land of ours can apply to any college or any university in any of the 50 states and not be turned away because his family is poor.“ (Huelsman 2015: 4) Die gut gemeinte Initiative förderte die Massenuniversität und sollte emanzipativ in die Gesellschaft hineinwirken, öffnete aber auch die Tore zur Vermarktlichung der Hochschulbildung weiter (Elliott/Lewis 2017: 11). Titel IV des Higher Education Acts enthielt die Ausfallbürgschaften der Bundesregierung für private bzw. kommerzielle Kreditgeber, die Studiendarlehen anboten (Fuller 2014: 42-68). Das Guaranteed Student Loan Program gewährte privaten Gläubigern Risikoschutz und schuf finanziellen Anreiz, privates Kapital in die öffentliche Bildungsinfrastruktur zu bringen.

Zur Zeit der Proteste von Studierenden gegen Kapitalismus, Krieg und Imperialismus Mitte der 1960er-Jahre hatten die frühen Neoliberalen gegen die Neue Linke längst ideologische Pfade in die Kanäle unter den Bildungseinrichtungen gelegt. In Opposition zu Präsident Johnsons inklusiver Great Society setzte Ronald Reagan im Wahlkampf ums Gouverneursamt in Kalifornien eine Creative Society. In einer Wahlkampfrede von 1966 erklärte Reagan, die Studentenproteste hätten mehr zu tun mit „Krawall und Anarchie“ als mit „akademischer Freiheit“ (Moncino 2015). Das entscheidende Element der neoliberalen Schuld(en)politik bestand darin, staatliche Universitäten zur Erhebung von Studiengebühren zu zwingen. Reagan verknüpfte Universitätskosten mit Steuern, um mit der Hochschulfinanzierung verbundene Staatsausgaben als Enteignung hart arbeitender Bürger zu Gunsten einer renitenten, undankbaren Jugend darzustellen. So machte Reagan Stimmung gegen Inklusion und studentischen Protest. Sein Argument lautete, dass Arbeiterkinder nicht an den Universitäten studierten, während die weißen Arbeiter für vorgebliche akademische Freiheit, Protest und Chaos bezahlen müssten.

Der diskursive Unterbau der Verschuldungspolitik war zu diesem Zeitpunkt längst installiert, wie Melinda Cooper hervorhebt (Cooper 2017: 232-239). Am Ende des Zweiten Weltkriegs, kurz nachdem Veteranen über das erste breit angelegte Stipendienprogramm im Rahmen der GI Bill von 1944 zu Hochschulbildung gekommen waren, hatten die Ökonomen der Chicago School, Milton Friedman und Simon Kuznets, die Blaupause für Reagans Politik verfasst. Über den ‚heilsamen Einfluss‘ des privaten Kapitalmarkts auf die Finanzierung von Universitäten und Colleges schrieben sie: „Students could be persuaded to sell ‚stock‘ in themselves and obligated to pay a portion of their future wages as ‚dividends‘ to their public of stockholders.“ (Friedman/Kuznets 1945: 90). In dieser Hinsicht wurden Studierende nicht einmal als Investoren in ihre eigene Zukunft betrachtet, sondern per se als Schuldner:innen der Gesellschaft, welcher sie bereits einen Teil ihres künftigen Einkommens schuldeten. Familiäre Hierarchien und intergenerationelle Abhängigkeiten, die Gebührenfreiheit und Demokratisierung des Hochschulzugangs ermöglicht hatten, sollten durch die Wiederherstellung der Gläubiger-Schuldner-Beziehung zwischen der älteren Generation und den Student:innen rehabilitiert werden. Nach Reagans Wahl zum Gouverneur gehörte zu seinen ersten Amtshandlungen eine Kürzung der Budgets der staatlichen Universitäten um zehn Prozent, gefolgt von dem Versuch, in Kalifornien Studiengebühren für alle einzuführen. Die Einschreibegebühr wurde für Studierende aus dem Bundesstaat auf 300 Dollar erhöht, Studierende aus anderen Staaten mussten eine jährliche Studiengebühr von 1200 Dollar bezahlen. In den 1970er-Jahren stiegen die Studiengebühren an den staatlichen Universitäten stetig, Mitte des Jahrzehnts finanzierte der Staatshaushalt bereits nur noch ein Drittel der Kosten der staatlichen Universitäten. Die Gebühren für Kalifornier:innen stiegen bis Mitte der 1970er-Jahre auf über 600 Dollar und die Studiengebühren für Nicht-Bundesstaatsangehörige auf über 2000 Dollar. Andere Bundesstaaten folgten diesem Modell, wobei die jeweiligen Landesregierungen zur Legitimierung dieser Politik unterschiedliche Aspekte der Preisgestaltung für die Studienfreiheit betonten (Newfield 2011: 51-67). Die Ideen der Chicago School hatten auf diesem Wege von Kalifornien aus Eingang in die weitere akademische Landschaft der Vereinigten Staaten gefunden. Immer mehr Studierende mussten hohe Kredite aufnehmen, um sich ein Studium leisten zu können.

Die Finanzialisierung der Bildungsindustrie

Die Bundesregierung musste die Risiken verwalten, die sie vom privaten Finanzsektor in der Bewirtschaftung von Studienkrediten übernahm. Im Jahr 1972 wurde der Higher Education Act geändert und die Student Loan Marketing Association (Sallie Mae) gegründet. Sallie Mae war eine Finanzstruktur zum Schutz privater Investitionen, indem sie Ausfallrisiken absicherte und Studentenkredite somit subventionierte (Elliott/Lewis 2017: 12/284). Dennoch gab es in den 1970er-Jahren in etwa gleichem Maße private Bildungskredite als auch staatliche Finanzierungsangebote, insbesondere die mit dem HEA von 1965 eingeführten und 1972 nach Senator Claiborne Pell benannten Pell Grants (Fuller 2014: 54). 1980 erhielten immer noch 2,7 Millionen Student:innen Pell Grants, wenn das Jahreseinkommen ihrer Eltern unter 25 000 Dollar lag (Huelsman 2015: 4). In den 1980er Jahren setzten sich jedoch private Studienfinanzierungsmodelle mit staatlicher Risikoabsicherung durch. Studienschulden wurden verbrieft und durch ein Verfahren namens Student Loan Asset-Backed Securitization (SLAPS) weiterverkauft. Wie Susanne Soederberg betont, wurde die Verbriefung von Schuldverschreibungen für Studentenkredite ab den 1980er-Jahren zum „Rückgrat der Studienkreditbranche“. (Soederberg 2014: 110) Und Mitte der 2000er-Jahre wurden – ähnlich wie auf dem Markt für Subprime-Immobilienkredite – hauptsächlich Kredite an Studierende vergeben, deren Risiken und Verpflichtungen verbrieft und in Form derivativer Wertpapiere weiterverkauft werden konnten.

1995 war im Rahmen der neoliberalen Reformen der Clinton-Regierung beschlossen worden, Sallie Mae zu privatisieren und somit den größten Akteur auf dem Markt für Studentenkredite in ein gewinnorientiertes Privatunternehmen zu verwandeln. Die Vergabe von mehr Krediten und die Ausweitung des Kreditvolumens wurde zur einen Komponente des Geschäftsmodells von Sallie Mae; die securitization, das Verpacken von Wertpapieren und der Weiterverkauf der Studentenschulden als Derivate, wurde zur anderen. Zugunsten der Finanzindustrie wurden Studentenkredite vom Insolvenzrecht weitestgehend ausgenommen. In diesem Finanzmarktgeschehen um den Hochschulbesuch ermöglichten es Studiendarlehen den Menschen zwar, einen Hochschulabschluss zu erlangen, machten gleichzeitig aber ihre wirtschaftliche Zukunft zu einem Eigentumsobjekt anderer auf einem diffusen Markt von Gläubigerinteressen und Finanztransaktionen. Spätestens seit den 1990er-Jahren war die Finanzialisierung durch Schulden tief in die Gegenwart und Zukunft junger Menschen und in ihre Leben auf Kredit vorgedrungen. Auch mein Interviewpartner Ryan, den seine Studienverschuldung zu dieser Zeit bereits seit einem knappen Jahrzehnt begleitet hatte, erhielt Anfang der 2000er-Jahre einen Brief von Sallie Mae, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass auch seine Kreditschulden weiterverkauft worden seien, und zwar ohne seine Zustimmung einzuholen; er war schließlich der Schuldner.

Seit der Great Recession im Anschluss an die Finanzkrise 2007/2008 – aber auch bereits davor – wurde die Überschuldung durch die seit den 1970er-Jahren immens gewachsenen Kreditökonomie problematisiert (Hershbein/Hollerbeck 2015). Ende der 1990er-Jahre hatten Suizidfälle junger Menschen aufgrund scheinbar aussichtsloser Lebenslagen öffentliche Aufmerksamkeit erregt und es wurden die ersten qualitativen Studien zum Problem der psychischen Überlastung junger Menschen durch Überschuldung durchgeführt (Manning 2000: 159-161). Schulden prägten die individuellen Lebensgeschichten der Menschen und durchdrangen die Hochschulbildung, wie Milton Friedman und Simon Kuznets es schon Jahrzehnte zuvor vorgeschlagen hatten (Friedman/Kuznets 1945: 90). Entsprechend finden sich auf der Website des Student Debt Crisis Center (SDCC) Erfahrungsberichte von über 80.000 Menschen aus den Vereinigten Staaten, die sich als durch ihre Studienschulden überlastet beschreiben. Eine Frau, die sich selbst das Pseudonym „Overworked“ gegeben hatte, schrieb im September 2021: „I have told others that they will bury me with my loans one day.“ (SDCC) Sie hatte in einer psychiatrischen Klinik unter schwersten Pandemiebedingungen gearbeitet, wo Krankenbetten mit COVID-Patienten belegt und Erschöpfung und Burnout an der Tagesordnung waren.

Vor diesem Hintergrund zeigt die Historikerin Elizabeth Tandy Shermer in Indentured Students: How Government Guaranteed Loans Left Generations Drowning in College Debt, dass das System der Studienschulden keine unbeabsichtigte Folge wohlmeinender Bildungspolitik und zufälliger Deregulierung ist, sondern durch eine bewusste Verschuldungspolitik begünstigt und hervorgebracht wurde. Die ausstehenden Schulden waren von 250 Milliarden Dollar in den frühen 2000er-Jahren auf 1,7 Billionen Dollar in den frühen 2020er-Jahren gestiegen (Shermer 2021: 289). Letzteres ist die Summe, welche etwa 50 Millionen US-Bürger:innen an staatlichen und privaten Krediten schulden. Der Anteil der Privatkredite stieg seit den 1980er-Jahren stetig an und wuchs in den 1990er-Jahren immens, als mein Interviewpartner Ryan seine Kredite aufnahm (Geiger 2019: 315). In unserem letzten Gespräch erzählte er mir, dass er eine Rentenversicherung aufgelöst habe, um einen Teil seiner Studienschulden zu tilgen. Gleichzeitig war es ihm wichtig zu betonen, dass es vielen Menschen in den USA in ihren Verbindlichkeiten noch viel schlechter ginge als ihm, da ihre Leben noch gravierender durch Schuld und Schulden geprägt waren. Während manche von der Verschuldung anderer oder der eigenen Kreditwürdigkeit immens profitieren, gilt für viele Millionen prekärer Schuldner:innen, was Ryan über seine persönliche Studienverschuldung schließlich bilanziert: „In the end, the price was too high“.

 

* Der Text ist eine gekürzte und übersetzte Fassung eines Beitrags, der auf History of Knowledge. Research, Resources, Perspectives (German Historical Institute Washington) unter dem Titel Living on Credit: Student Debt in the U.S. History of Knowledge im September 2024 bereits publiziert wurde.

** Die Namen der interviewten Personen und ihrer Familien wurden geändert.

Foto: Dick Wheeler / Daily Californian Archives