Dec. 15, 2025

Wozu ein „Allgemeines Grunderbe“?

Author: Coco Lina Aglibut

Wozu ein „Allgemeines Grunderbe“?
 

Vermögen sind in Deutschland besonders ungleich verteilt und stark konzentriert: Die wohlhabendsten 10% verfügen über zwei Drittel des Gesamtvermögens und das reichste 1% besitzt ein Drittel. Der Haupttreiber dieser eklatanten Vermögensungleichheit sind Erbschaften und Schenkungen. Während die Hälfte der Bevölkerung praktisch nichts vererbt bekommt, erhalten einige wenige sehr viel (vgl. Bach 2021). Vermögen wird damit zum unverdienten Privileg (vgl. van Dyk 2022). Die Idee des Allgemeinen Grunderbes will dem etwas entgegensetzen: Eine einmalige Geldzahlung im jungen Erwachsenenalter, die in einem politischen Gemeinwesen an annähernd alle seine Mitglieder bedingungslos (ohne Bedürftigkeitsprüfung oder Gegenleistung) individuell ausgezahlt wird und aus hohen und sehr hohen Erbschaften finanziert wird. Im ersten Teil dieses Beitrags soll die Ideengeschichte des Grunderbes kurz dargestellt werden. Im zweiten Teil werden die liberal-marktfunktionalistischen, die sozial-integrativen und die transformativen Potenziale vorgestellt, die dem Grunderbe aus ebendiesen drei Begründungsperspektiven zugeschrieben werden. Zum Schluss wird mit Blick auf die Titelfrage Wozu ein Allgemeines Grunderbe? ein Resümee gezogen.

 

Eine kurze Ideengeschichte des Grunderbes

Erstmalig thematisierte Thomas Paine (1797) das Grunderbe. Für Paine sollte die Kapitalausstattung für junge Erwachsenen die Funktion haben, jenen, die durch die Einführung des Systems des Grundeigentums den Verlust ihres „natürlichen Anteils an der Welt“ erlitten hatten, für ihren Verlust zu entschädigen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert erlangte die Idee erneut Konjunktur: Im Zuge der Auseinandersetzung mit der sogenannten Sozialen Frage im Kontext der industriellen Revolution und des europäischen Pauperismus, brachten liberale Sozialreformer und Frühsozialisten in Großbritannien, Frankreich und Deutschland eigene Varianten eines solchen Vorschlags in die Debatte ein. Gemein war ihnen, dass sie am Erbrecht ansetzen wollten, um das Problem des Massenelends und der Chancenlosigkeit zu lösen.

Erst in den 1990er und 2000er Jahren wurde die Idee von Paine im englischsprachigen Raum (Sherraden 1991; Ackerman/Alstott 1999; Le Grand/Nissan 2000) und in Deutschland (Grözinger et al. 2006) wieder aufgriffen und als Reformidee für den Wohlfahrtstaat ausgearbeitet. Gerechtfertigt wurde das Grunderbe nun durch das „Postulat der gleichen Freiheit“ oder die „Chancengleichheit“, verstanden als Egalisierung des Zugangs zum Gebrauch von Freiheitsrechten (deontologisch) und durch seinen ökonomischen Wohlfahrtsgewinne (konsequentialistisch) (vgl. Grözinger et al. 2006). Als positiven Nebeneffekt, erhofften sich Befürworter*innen den Wohlfahrtsstaat als Versorgerstaat durch die wirtschaftliche Ermächtigung der Einzelnen zu entlasten und zurückzubauen.   

Zwischen 2015 und 2021 erlangte die Idee erneut Aufwind, da sie vom britischen Ökonom Anthony Atkinson (2015) und von dem einflussreichen französischen Ungleichheitsforscher Thomas Piketty (2020) erneut ausgearbeitet wurde. Das Grunderbe geriet als ein Baustein in umfassenderen Programmen zur Bekämpfung der weiterhin eskalierenden ökonomischen Ungleichheiten in den Blick. Über eine „Erbschaft für alle“ in Höhe von 120.000 Euro – 60% des durchschnittlichen Pro-Kopf-Vermögens – in Kombination einer stark progressiven Besteuerung bedeutender Vermögen wollte Piketty das Prinzip des „Kapitaleigentums auf Zeit“ einführen und ein wirkliches „gesellschaftliches Kapitaleigentum“ schaffen, das langfristig einer Überwindung des Kapitalismus und des Privateigentums zugunsten eines partizipativen Sozialismus dienen sollte (Piketty 2020). Ebenfalls im Jahr 2015 stellte Steffen Mau (2015) das Instrument eines „Lebenschancenkredit“ vor und definiert dieses als ein „universelles Anrechtsguthaben“, welches für Bildung, Zeitsouveränität und die Absicherung gegen soziale Risiken gebraucht werden kann. Durch Stephan Bachs Studien (DIW 2021; New Economic Forum), geriet das Grunderbe mehr denn je zuvor in die politische Debatte. Medial wurde es insbesondere durch das Pilotprojekt der Stiftung „Ein Erbe für Jeden“ seit 2022 in Presse, Funk und Fernsehen diskutiert.

 
Liberal-marktfunktionalistisch, sozial-integrativ, transformativ: Drei Begründungsstränge für ein Grunderbe

Die Idee des Grunderbes lässt sich aus gänzlich unterschiedlichen Perspektiven begründen, die es in verschiedene Richtungen hin ideell anschlussfähig machen. Aus liberal-marktfunktionalistischer Perspektive könnte das Grunderbe ein Mittel zur Angleichung individueller Chancen auf wirtschaftliche Teilhabe sein. Aus sozialintegrativer Perspektive könnte es über die ökonomische Besserstellung von Menschen eine Chance für die Stärkung der gesellschaftlichen Solidarität und den Erhalt der Demokratie sein. Aus transformativer Perspektive könnte es ein Instrument sein, das zur tiefgreifenden Transformation der Strukturen des Kapitalismus beitragen könnte.

 

Die liberal-markfunktionalistische Begründung

Anlass, über ein Grunderbe nachzudenken, ist aus liberaler Sicht das Problem, dass Staatsbürger*innen in kapitalistischen Gesellschaften zwar formal gleiche Rechte besitzen, aufgrund höchst ungleicher materieller Ausgangsbedingungen jedoch nicht über die gleichen Chancen verfügen. Zugrunde liegt der Idee von Chancengleichheit ein bestimmtes substanzielles Freiheitsideal, welches vom Philosophen und Ökonom Philippe van Parijs (1995) entwickelt wurde. Er unterscheidet zwischen „formaler“ und „reeller Freiheit“ (van Parijs 1995). Während formale Freiheit die rechtliche Gleichstellung bedeutet, beinhaltet die reelle Freiheit die tatsächliche Möglichkeit, von diesen Freiheiten Gebrauch zu machen, um einen eigenen „Lebensplan“ auszuwählen und realisieren zu können. Als wesentlich für eine gleichmäßige Verteilung der Grundlagen für den Freiheitsgebrauch kann hierbei insbesondere das materielle Vermögen betrachtet werden, dessen soziale Funktion in einem Gewinn an Autonomie, Sicherheit und Gestaltungsfreiheit besteht.

Um diese reelle Freiheit zu gewährleisten, geraten Erbschaften für eine mögliche Andersverteilung in den Fokus: Sie sind der „Stachel im liberalen Selbstverständnis bürgerlicher Gesellschaften [sind], weil das durch Erbschaften ‚mühelos‘ erworbene Vermögen sich nicht mit dem Leistungsprinzip als normativer Grundlage zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheit vereinbaren lässt“ (Beckert 2006). Aus liberaler Sicht ist nämlich eine ungleiche Vermögensverteilung nicht per se problematisch, sondern nur dann, wenn sie auf unverdientem Privileg beruht und nicht auf den Leistungsbeiträgen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder.

Während diese Egalisierung der Chancen zwar mit der Einschränkung eines Freiheitsrechts – dem Vererbe-Recht – einhergeht, ist dies aus radikalliberaler Sicht gerechtfertigt und zumutbar, da durch eine solche egalisierende Vorkehrung eindeutig mehr Menschen in ihrem Freiheitsgebrauch begünstigt als beeinträchtigt würden. Das Erbschaftssystem transformiert marktwirtschaftlich erzeugte Ergebnisungleichheiten in strukturelle Chancenungleichheiten und unterminiert damit die normative Grundlage des liberalen Kapitalismus, der auf der Vorstellung gleicher Ausgangsbedingungen beruht.

 

Die sozialintegrative Begründung

Aus sozialintegrativer Sicht ist das Grunderbe vor allem ein „überfamiliärer Erbausgleich“. Während der Großteil des Vermögens weiterhin an eigene Nachfahren geht, würde ein Teil davon an die Kinder ärmerer Familie fließen, die unverschuldeterweise kein eigenes Erbe erwarten können. Reiche Erblasser*innen würden etwas an Nicht-Erben abgeben und könnten sich dabei auf einen politischen Mechanismus verlassen, der die Gleichbehandlung aller Gesellschaftsmitglieder sicherstellt. Aus der Vogelperspektive würde somit ein Teil des volkswirtschaftlichen Vermögens kohortenbezogen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, statt – wie bisher – ausschließlich familienbezogen. Das Grunderbe setzt damit neue Vorstellungen von sozialer Solidarität abseits von einer »Solidarität aus Nähe« (z.B. Blutsverwandtschaft) voraus und stiftet sie zugleich. Theoretisch besonders interessant erscheint die Wahl der notwendigen Begründung, die für einen solchen Mechanismus überfamiliärer Solidarität ins Feld geführt werden müsste. Einerseits könnte man argumentieren, dass überfamiliäre Solidarität wünschenswert erscheint, weil über den Gewinn an Gleichheit ein gelingenderes, friedvolleres Zusammenleben gestiftet würde (supererogatorische Begründung) (Pickett & Wilkinson 2009). Andererseits könnte man sagen, dass wir es einander schuldig sind (pflicht-basierte Begründung). Erkennt man den kollektiven Anteil im Privateigentum an – also die Tatsache, dass das private Vermögen in den allermeisten Fällen bei hohen bis sehr hohen Vermögen nicht durch einzelne Privatpersonen, sondern gemeinschaftlich und kollektiv hervorgebracht wurde (Paine 1797; Piketty 2020; van Dyk 2024) – erscheint es aus moralphilosophischer Perspektive geboten, jenen Anteil wieder an die Gemeinschaft zurückzuzahlen. Im Falle des Grunderbes würde dies nicht über die Rückzahlung an einen Staat erfolgen, sondern über die direkte Auszahlung an die einer Gesellschaft angehörigen Individuen.

Vor dem Hintergrund aktueller Gefährdungen der Demokratie erscheint die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts besonders drängend, um faschistischen Tendenzen den Nährboden zu entziehen. Die Soziologin Arlie Hochschild (2016) zeigt anhand von ihren Interviews mit Anhänger*innen der Tea-Party-Bewegung in den USA, wie sich wahrgenommene Benachteiligungen in den eigenen Lebenschancen in Ressentiment übersetzen. Ihre Feldforschung legt einen Zusammenhang zwischen dem Gefühl, selbst keine faire Chance zu haben und Feindseligkeit gegenüber Anderen (z.B. Fremdenfeindlichkeit) nahe. Wer das Gefühl hat, kulturell nicht mehr viel zu gelten und im Leben nicht voranzukommen, verliert den Glauben an den Fortschritt. Dieser „Verlust des Fortschrittsversprechens“ (Reckwitz 2024) verschärft teils diffuse Abstiegsängste und Statuskonkurrenz und leistet darüber Ausgrenzungen Vorschub.  

Die Hoffnung, die sich aus dieser Perspektive an ein Grunderbe knüpft, wäre, dieser Verlusterfahrung durch die Eröffnung von individuellen Aufstiegsmöglichkeiten zu begegnen. Mittels des Abbaus tatsächlicher materieller Benachteiligungen, könnte die Gleichheit und der gesellschaftliche Zusammenhalt in der Demokratie verbessert werden.

 

Die transformative Begründung

Aus transformativer Sicht stellt sich die Frage, inwieweit das Grunderbe einen Beitrag zu einem schrittweisen Ausstieg aus dem Kapitalismus leisten kann. Während das Grunderbe weder unmittelbar die Form verändert, die das Eigentum über Produktionsmittel annimmt, noch die Art von Macht, welche über die Zuteilung, Kontrolle und Verwendung wirtschaftlicher Ressourcen entscheidet, so könnte es zumindest den Zugang zum Privateigentum an den Produktionsmitteln und zu wirtschaftlicher Macht dekonzentrieren. Mit Blick auf die Transformation hin zu einem Sozialismus hätte das Grunderbe transformatives Potenzial, wenn es – wie bei Piketty 2020 – hoch genug wäre, dass sich aus allen betroffenen Stakeholdergruppen (u.a. Beschäftigte, Konsument*innen, Lieferant*innen und der Staat für die Allgemeinheit) möglichst viele als Shareholder in möglichst viele relevante Wirtschaftsbetriebe einkaufen und dort umfassend und gleichberechtigt die Verfügungs- und Kontrollmacht ausüben könnten. Dazu müsste es in eine politische Vergesellschaftungsstrategie eingebettet und durch entsprechende Gesetze flankiert werden.

Mittelbar könnte das Grunderbe zur sukzessiven Entproletarisierung lohnabhängig Beschäftigter beitragen. Die Erhöhung der wirtschaftlichen Macht der Einzelnen könnte zu einer Machtverschiebung von Arbeitgeber*innen zu Arbeitnehmer*innen führen und deren individuelle und kollektive Verhandlungsmacht stärken. Durch jene Effekte könnte das Grunderbe nicht nur zeitweise, sondern auch dauerhaft bessere materiellen Bedingungen schaffen und Freiräume für gesellschaftliche Ermächtigung ausweiten. Ob und inwieweit diese Freiräume für transformative Zwecke genutzt würden, hinge auch von den ideellen oder ideologischen Bedingungen ab, unter denen es eingeführt würde. Eine gesellschaftliche Transformation erfordert sowohl einen Wandel der materiellen Verhältnisse als auch der Denk- und Handlungsweisen. Keine dieser Veränderungen ist für sich allein hinreichend.

 

Schlussfolgerung

Die Frage Wozu ein Allgemeines Grunderbe? ließe sich aus den vorgestellten Perspektiven dreierlei beantworten. Aus liberal-marktfunktionalistischer Perspektive könnte das Grunderbe der Ehrenrettung des liberalen Kapitalismus dienen, dessen Legitimitätsgrundlage die Idee der gleichen Ausgangsbedingungen ist. Eine Reform des Erbrechtssystems erscheint aus dieser Perspektive dringend erforderlich, um das liberale Möglichkeitsversprechen des Aufstiegs durch Leistung oder harte Arbeit glaubhaft zu machen. Aus sozial-integrativer Perspektive ist gerade die Enttäuschung vom Ausbleiben des individuellen Fortschrittversprechens ein zentraler Schmerzpunkt der Mitglieder der Mitte. Würde dieser Schmerzpunkt durch ein Grunderbe behandelt werden, würde dies Vertrauen, Solidaritätsbereitschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften und eine sozialintegrierende Wirkung entfalten, von der alle Gesellschaftsmitglieder unmittelbar profitieren würden. Insbesondere für von Ausgrenzung bedrohte Gruppen, ist die Entschärfung der sozialen Konkurrenz dabei besonders existenziell. Aus transformativer Perspektive könnte ein Grunderbe in erster Linie über die Ermächtigung der Einzelnen die konkreten Bedingungen verbessern, unter denen Menschen sich mittels des Aufbaus „realer Utopien“ für sozialistischen Wandel organisieren. Darüber hinaus könnte ein zu niedriges Grunderbe sich nach seiner Einführung für Menschen nur wie ein Trostpflaster anfühlen, statt als Einlösung des Aufstiegssversprechens. Sollte dies der Fall sein, wäre dies aus transformativer Perspektive interessant, da dies bewusstseinserweiternde Effekte hinsichtlich strukturell-systemischer Fragen haben könnte. Ein sehr hohes Grunderbe – wie bei Piketty 2020 – wiederrum, könnte den Kapitalismus durch die radikale Disziplinierung der Konzentrationstendenzen des Kapitals bis zu seiner Unkenntlichkeit transformieren und in Kombination mit geeigneten flankierenden Maßnahmen in einen Sozialismus mit Privateigentum auf Zeit führen.

 

 

Bild: Ryoji Iwata auf unsplash