Wem gehört die Biodiversität? Von Global Commons über intellectual property rights zu open access
Wem die Biodiversität gehört, beziehungsweise, ob sie überhaupt jemanden gehören sollte, diese Fragen werden seit Jahren kontrovers diskutiert und zunehmend durch internationale Abkommen geregelt. Ein zentraler Streitpunkt ist, wie ein gerechter Vorteilsausgleich (ABS – Access and Benefit Sharing) aussehen müsste, der Länder mit einer großen biologischen Vielfalt ebenso wie Indigene an den Gewinnen transnationaler Biotechnologiefirmen meist aus dem Globalen Norden beteiligt, sobald ihre genetischen Ressourcen oder ihr Wissen dazu kommerzialisiert werden. Im vorliegenden Beitrag skizzieren wir die Entwicklungen des ABS-Mechanismus auf internationaler Ebene und zeigen am Beispiel Brasilien, dass trotz großer administrativer Bemühungen kein gerechter Vorteilsausgleich stattfindet – ganz gleich, ob Biodiversität als gemeinsames Erbe der Menschheit, nationalstaatliches Eigentum oder Open Access Ressource definiert wird.
Die Einführung intellektueller Eigentumsrechte
Bis Ende des 20. Jahrhunderts war die Antwort auf die Frage, wem eigentlich die Biodiversität gehört, weitgehend klar: Biodiversität galt als „gemeinsames Erbe der Menschheit“. Diese Erzählung stand im krassen Gegensatz zur Wirklichkeit. De facto haben sich Forscher:innen und Vertreter:innen von Unternehmen in kolonialer Manier oftmals von Indigenen Menschen Pflanzen etwa mit medizinischer Heilwirkung zeigen lassen – um sich wenig später den extrahierten Wirkstoff patentieren zu lassen. Denn seit 1995 wurden auf internationaler Ebene mit dem Trips-Abkommen (Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights) im Rahmen der WTO verabschiedet. Damit wurden die rechtlichen Möglichkeiten weltweit verallgemeinert, so genannte „genetische Ressourcen“ patentieren zu lassen, wenn diesen menschliche Arbeit bzw. eine Innovation hinzugefügt wird. Damit wird die Locke´sche Idee, dass Eigentumsrechte sich aus der Aneignung von natürlichen Rohstoffen und dem Hinzufügen von eigener Arbeitskraft und Fleiß generieren (ohne vorher um Genehmigung bitten zu müssen) auf internationaler Ebene wirkmächtig. Das Trips-Abkommen schützt damit v.a. die Rechte derjenigen, die die Wirkstoffe aneignen, technologisch modifizieren, zum Produkt machen und verkaufen. Die Befürworter:innen des Abkommens wie z. B die US-basierte International Intellectual Property Alliance und der United States Trade Representative verweisen darauf, dass nur der konsequente Schutz geistigen Eigentums dafür sorgt, dass innovative Branchen wie die Pharmaindustrie genug Anreize für die Erforschung, Entwicklung und Herstellung neuer Medikamente und Technologien hätten. Oft wurde von ihnen auch betont, dass diese Innovationen für Medikamente und Therapien „zum Wohle der Menschheit“ seien – nicht zuletzt als die Diskussion um Trips im Rahmen der Corona-Pandemie wieder aufflammte.
Doch diejenigen, die die Pflanzen gezüchtet und ihre Wirkstoffe erkannt haben – oftmals Indigene Gruppen oder traditionelle Gemeinschaften - gingen in dieser Eigentumsordnung leer aus. Umwelt- und Menschrechtsaktivist:innen sowie NGOs wie z. B die Indische Aktivistin Vandana Shiva und die RAFI Organisation weltweit kritisierten diesen Umstand und prägten dafür einen neuen Begriff, „Biopiraterie“, um damit die illegitime gewaltsame Aneignung bzw. den Raub von Saatgut oder dem Wissen um Pflanzenwirkstoffen durch transnationale Konzerne zu skandalisieren. In einer globalen Kampagne gegen Biopiraterie wurden Patente als ein Schlüsselinstrument zur Sicherung und Legitimierung des Raubes dargestellt, und dabei auch auf die Konvergenz von materieller und immaterieller Aneignung hingewiesen. Denn aufgrund der Existenz geistiger Eigentumsrechte kann nicht nur das biologische Material angeeignet werden, sondern auch das Wissen, das mit diesem biologischen Material verbunden ist und von ihm stammt.
Gegen Biopiraterie und als Gegengewicht zum Trips-Abkommen wurde im Rahmen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt (kurz: Biodiversitätskonvention oder CBD – Convention on Biological Diversity), ein Mechanismus zum gerechten Vorteilsausgleich (ABS – Access and Benefit Sharing) ausgehandelt. Ziel von ABS ist es den Zugang zu genetischen Ressourcen eines Landes zu regeln und gleichzeitig den ökonomischen Gewinn aus dieser Aneignung gerecht aufzuteilen. Im Jahr 2010 wurde nach langen Verhandlungen zwischen Ländern des Globalen Südens und Nordens das Nagoya-Protokoll verabschiedet, das diesen Mechanismus umsetzt.
Mit dem Abkommen wird die Frage, wem die Biodiversität gehört, auf globaler Ebene neu beantwortet: Den Staaten, auf dem diese Pflanzen(-wirkstoffe) zuerst vorgekommen sind bzw. dieses Vorkommen dokumentiert ist. Nun ist die Biodiversität also nicht mehr „gemeinsames Erbe der Menschheit“, sondern unterliegt der Souveränität des Staates. Zudem ist das Protokoll auf internationaler Ebene das erste (und bislang das einzige) verbindliche völkerrechtliche Abkommen, das zusätzlich die Rechte Indigener und traditioneller Gemeinschaften anerkennt. Nationale Regierungen sind nämlich dazu verpflichtet, das Wissen über Pflanzenwirkstoffe Indigener und lokaler Gemeinschaften bei Ausgleichszahlungen zumindest zu „berücksichtigen“ – wobei berücksichtigen nicht zwingend respektieren bedeutet. D.h. es verlangt von den Mitgliedsstaaten, nationale ABS-Regelungen zu etablieren und zu respektieren, lässt dem Staat aber die Möglichkeit, den Zugang nicht zu regeln und die Ausbeutung biologischer Ressourcen und dem Wissen darüber frei und ohne die Zustimmung der Indigenen und traditionellen Gemeinschaften zu erlauben. Auch wenn das Nagoya-Protokoll damit sehr „weich“ formuliert ist, ist es Befürworter:innen ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Anerkennung und zum Schutz der Gewohnheitsrechte und des traditionellen Wissens indigener und lokaler Gemeinschaften.
Außerdem wird im Nagoya-Protokoll das Konzept der "genetischen Ressource" verankert – und zwar um die Ziele der Erhaltung der biologischen Vielfalt zu verwirklichen. Kritiker:innen (z.B. Dutfield 2004; Suisseya 2014) heben jedoch hervor, dass das Konzept einen instrumentellen und potenziell monetären Wert der biologischen Vielfalt in den Vordergrund stellt und gleichzeitig die Idee des intrinsischen Wertes der Biodiversität schwächt, die ebenfalls in der Konvention erwähnt wird. Die in Rio vereinbarte Biodiversitätskonvention bzw. das Nagoya-Protokoll stärkt zudem die Vorstellung von Eigentumsrechten. Eigentumsrechte werden sowohl in Form von staatlicher Souveränität (über Ressourcen auf dem eigenen Territorium) als auch in Form der Kontrolle über geistiges Eigentum begründet. Damit folgt die Konvention der konventionell-westlichen Sichtweise von Natur als Eigentum – als etwas, das Menschen besitzen und gemäß den Eigentumsregeln innerhalb einer Gesellschaft nutzen können. Sie sagen aber nichts Genaues darüber aus, wie die Rechteinhaber mit der Biodiversität umgehen dürfen oder müssen und was sie konkret besitzen, wenn das Eigentumsobjekt Biodiversität ist. Die Propertisierung von genetischen Ressourcen der Biodiversität folgt im Allgemeinen den Eigentumsformen, die bei der World Intellectual Property Organisation (WIPO) bestimmt wurden. Entsprechend handelt es sich meist um Patente, wenn Biodiversität inwertgesetzt wird.
Das Nagoya Protokoll: von großen Hoffnungen und fehlenden Auszahlungen
In der Praxis zeigt sich, dass das mit dem Nagoya-Protokoll eingeführte Access and Benefit Sharing kaum funktioniert; bisher haben weltweit nur verschwindend wenige Indigene und Traditionelle Gemeinschaften von der Regelung profitiert. In Brasilien wird der ABS-Mechanismus seit Anfang der 2000er Jahre gesetzlich und institutionell umgesetzt; das Nagoya-Protokoll hat es erst 2021 ratifiziert. Trotz eines paritätisch besetzten nationalen Gremiums und eines eigens eingerichteten Fonds wurden bisher nach Angaben des Leiters der zuständigen brasilianischen Behörde (Conselho do Patrimonio Genético) bei der COP-15 in Montreal (2022) nur sechs Millionen Reais (ca. 1,2 Mio Euro) seitens des Staates eingezahlt und daraus kein Cent an Indigene oder Traditionelle Gemeinschaften ausgezahlt.
Dabei haben und hatten viele Indigene Repräsentat:innen in verschiedenen Erklärungen und Briefen bekräftigt, mit der Einführung des Mechanismus große Hoffnungen zu verbinden. Viele sahen damit endlich bestätigt, dass die Lebensweise der Indigenen und Traditionellen Gemeinschaften als wertvoll zur Erhaltung der Biodiversität gelte. Damit sollten sie nicht nur verbriefte Rechte auf Gewinnbeteiligung erlangen, sondern zugleich ihre Territorialrechte besser schützen – was für viele das wichtigste Anliegen ist. Andere sahen darin sogar die Stärkung Indigener Souveränität über die in ihren Territorien vorkommende Biodiversität. Denn ihre explizite Zustimmung zur Nutzung der Ressourcen wird im Rahmen des Protokolls angestrebt, ihr Traditionelles Wissen wertgeschätzt. Manche Beobachter:innen wie der Klimatologe Carlos Nobre und das von ihm geförderte Projekt Amazônia 4.0 gehen sogar noch einen Schritt weiter und setzen sich dafür ein, dass die Indigenen und Traditionellen Gemeinschaften als die rechtmäßigen Eigentümer:innen dieser Biodiversität betrachtet werden müssten und als rechtmäßige Erfinder:innen Patente anmelden und halten sollten. Dabei ist insbesondere unter Indigenen Repräsentant:innen und Forscher:innen umstritten, inwieweit eine solche Ausweitung von intellektuellen Eigentumsrechten mit den Indigenen Konzeptionen von Natur und nicht-privatem Eigentum kompatibel ist und diese droht – trotz gegenteiliger Zielsetzung – zu zerstören.
In der Praxis kann jedoch von einer Kontrolle und Bestimmung über die Biodiversität durch Indigene und Traditionelle Gruppen keine Rede sein. Stattdessen hat sich auf den nationalen (z.B. in Brasilien) und supranationalen Ebenen (z.B. der Europäischen Union) eine eigenständige und spezialisierte Bürokratie zur Umsetzung des Mechanismus etabliert. Begleitet wird dieser Prozess von einer wachsenden Anzahl von privaten Beratungsfirmen, internationalen NGOs, Think-tanks und transnationalen Expert:innen-Foren wie z.B The Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) und die International Union for Conservation of Nature (IUCN).
Für die Forschung ist das Nagoya-Protokoll ein Problem – da sind sich Forscher:innen aus dem Globalen Norden und Globalen Süden einig. Forscher:innen, botanische Sammlungen und Museen klagen darüber, dass die Regelung des Nagoya-Protokolls unklar sowie mit zu hohen Transaktionskosten verbunden seien. Die globalen Ungleichheiten der biotechnologischen Forschung werden dadurch sogar verstärkt: In Brasilien stehen Wissenschaftler:innen von unterschiedlichen Forschungseinrichtungen wie EMBRAPA und FIOCRUZ, komplizierten Regelungen gegenüber, die von globalen Unternehmen oder internationalen Forschungsnetzwerken einfach umgangen werden können.
Seit seiner Verabschiedung wird dieser ABS-Mechanismus aber zunehmend biotechnologisch unterlaufen: Mittlerweile ist es viel kostengünstiger und einfacher auf die Digitale Sequenzierung von Genetischen Ressourcen (DSI) zurückzugreifen. Früher brauchte es immer das physische Material der jeweiligen Pflanze, mittlerweile lassen sich aber bereits Forschungen (bzw. auch Produkte) auf Grundlage von digitalen Informationen zur molekularen Zusammensetzung derselben entwickeln. Diese Informationen sind deshalb dematerialisiert; der Zugang ist also nicht mehr von naturwissenschaftlichen Sammlungen abhängig, sondern sie werden über Online-Datenbanken beliebig häufig geteilt. Zugleich ist auch noch schwerer festzustellen, wo/wann/wie und von wem die Daten erhoben wurden und folglich ein Vorteilsausgleich noch schwerer zu organisieren. Neben der Schwierigkeit, das Eigentumsobjekt zu definieren, verschwimmen die Eigentumssubjekte. Indigene Ansprüche auf Ausgleichszahlungen sind etwa im Falle von Gensequenzen schwer zu machen.
Von jüngsten Entwicklungen und Umdeutungen
Befürworter:innen des Nagoya-Protokolls plädieren deshalb seit Jahren für Anpassungen im Abkommen – nämlich einer Fokussierung auf genetische Informationen anstatt auf die nicht vorhandene Materialität von genetischen Ressourcen. Zudem stellen Expert:innen und Forscher:innen v.a. aus dem Globalen Norden aber mitunter auch aus Brasilien, Indien oder Südafrika die Ausrichtung des Abkommens auf nationale Souveränität und bilaterale Abkommen in Frage.
Entgegen der früheren und aktuellen Eigentumsordnung im Bereich Biodiversität diskutieren Expert:innen v.a. des Globalen Nordens (beispielweise das DSI Scientific Network) in diesem Zusammenhang Open Access und Open Data. Der Deutsche Wissenschaftsrat schrieb beispielsweise im Herbst 2021 dass, wenn DSI vollumfänglich unter das Nagoya-Protokoll fallen würde, die Erforschung des Artenrückgang und das Verständnis von Ökosystemleistungen für den Menschen sowie auch biomedizinische und bioökonomische Forschung beeinträchtigt seien. Damit verkehren sie die Idee des Open Access in ihr Gegenteil, denn es geht Forschung und Unternehmen oftmals v.a. um den erleichterten Zugriff auf die Biodiversitätsressourcen um sie profitabel in Wert zu setzen. Ungeklärt bleibt, wie der ABS-Gedanke hierbei umgesetzt werden kann.
Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass insbesondere die Länder des Globalen Südens – allen voran Brasilien und die Afrikanische Gruppe – umso vehementer die Durchsetzung ihrer Souveränitäts- und Eigentumsrechte an den genetischen Ressourcen oder Informationen aus ihren Territorien fordern. Bei der letzten Vertragsstaatenkonferenz in Kanada im Winter 2022 setzten sie durch, dass Digitale Sequenzierung unter das Nagoya-Protokoll fällt und in den Folgekonferenzen entsprechende Anpassungen verhandelt werden. Selbst einige Vertreter:innen der Indigenen und Traditionellen Communities treten angesichts der Verschiebungen, die mit DSI einhergehen für das Festhalten an dem klassischen ABS-Mechanismus ein. Sie hoffen auf zukünftige Zusatzeinnahmen für den Biodiversitätsschutz sowie v.a. auf die Stärkung der für die Indigenen zentralen Territorialrechte, welche mit den Debatten um den ABS Mechanismus oftmals in den Hintergrund treten (Dutfield 2004) .
Die biotechnologischen Innovationen führen also zu der paradoxen Situation, dass Länder des Globalen Südens sowie Indigene und Traditionelle Gemeinschaften auf den ABS-Mechanismus setzten, der mit der Idee einer geringfügigen Gewinnbeteiligung (von weniger als einem Prozent) auf den privaten Eigentumsverhältnissen v.a. in Form von Patenten basiert, die sie ursprünglich als Biopiraterie kritisiert haben. Der zunehmenden Propertisierung von Biodiversität bis hin zu den molekularen Ebenen kann aber mit diesem Ansatz nichts entgegengesetzt werden. Die private Eigentumsförmigkeit der Biodiversität wird nicht mehr in Frage gestellt, sondern nur darum gerungen, wer ggf. wieviel vom Biotech-Kuchen abbekommen soll. Alternativ dazu diskutieren Forscher:innen aus aller Welt (Scholz et al. 2022), inwieweit z.B. eine Abgabe aller Biotech-Firmen für einen globalen Biodiversitätsfonds zielführender wäre und zu mehr Auszahlungen an Länder mit einer großen Biodiversität und an Indigene Gemeinschaften führen würde. Inwieweit diese DSI-Krise zu einem Ende der privaten intellektuellen Eigentumsrechte und damit verbunden zu einer anderen (ggf. gerechteren) Eigentumsordnung führt, ist fraglich. Zu groß sind die globalen Machtasymmetrien zwischen Ländern, aber auch innerhalb der Länder zwischen nationalstaatlichen und Indigenen Interessen.